Das Dienstzimmer des Wächters liegt in luftiger Höhe, 298 Stufen über dem Prinzipalmarkt
Münster. Hier läuten die Glocken, sagt man, oder es regnet. Sollte beides zusammenfallen, so munkeln Kenner von Westfalens Metropole, dann muss es ein Sonntag sein.
Wolfram Schulze – Türmer von Münster
Bläst brave Bürger in die Betten
Das Dienstzimmer des Wächters liegt in luftiger Höhe, 298 Stufen über dem Prinzipalmarkt
Münster. Hier läuten die Glocken, sagt man, oder es regnet. Sollte beides zusammenfallen, so munkeln Kenner von Westfalens Metropole, dann muss es ein Sonntag sein. Sicher ist: Münster steckt voller liebenswerter Merkwürdigkeiten. Wie der Job von Wolfram Schulze. Seit 19 Jahren ist der ehemalige Philosphiestundent und gelernte Weber in Amt und Würden und hält im Türmerzimmer von St. Lamberti Wacht. Mit dem beschwerlichsten Teil beginnt sein Nachtwerk. Pünktlich mit dem neunten Glockenschlag erklimmt Wolfram Schulze die 298 ausgetretenen Steinstufen der Gothik-Kathedrale. In luftiger Höhe, 75 Meter über dem Herzen der Altstadt und Münsters „guter Stube“, liegt das Dienstzimmer des 67jährigen Stadtangestellten.
Der Raum gleicht einem Abbild spitzwegscher Prägung: Ein schmales Sofa, Holzschreibtisch, dazu einige Gemälde und Bücher. Von hier aus meldet der Türmer allabendlich per Telefon seinen Arbeitsbeginn der Feuerwehr.
Brände und anrückende Feinde zu melden, gilt auch heute noch nach altem Wächterbrauch zu den Aufgaben des Türmers von Münster. Letzteres allerdings kommt recht selten vor. Meist ist die Berufsfeuerwehr auch ohne Hilfe von oben schneller. Nur vier Mal, berichtet Wolfram Schulze stolz, habe er Brände vom Turm aus als Erster gesehen und gemeldet. Mal war es ein Pferdestall, mal ein Haus oder eine Scheune.
Jede Nacht ein wunderbarer Ausblick
Was den Wächter die Nacht über wach hält, ist – so paradox es klingen mag – die Zeit. Denn alle 30 Minuten, so gebietet es die Überlieferung, muss Wolfram Schulze in sein großes Horn blasen, um anzuzeigen, welche Stunde geschlagen hat. Und das bis zum ersten Glockenschlag des neuen Tages. Bis dahin genießt er vom Kirchturm aus einen unvergleichlichen Ausblick über die ganze Stadt und bestaunt die Straßen, „die von oben wie Landebahnen für Flugzeuge aussehen, weil sie nachts von Tausenden von Lichtern eingerahmt sind“. Das „Original“ ist fester Bestandteil im Personaletat der Stadt und hat sich als wirksamer Werbeträger einen Namen gemacht. Als ausgewiesener Bücherfreund teilt sich der 68jährige die „Einsiedlernächte“ als letzter Vertreter seines Standes noch mit zwei Kollegen. Der eine wacht im schwäbischen Nördlingen, der andere versieht seinen „luftigen“Dienst im polnischen Krakau.
„Suff und Weiber“ waren für Türmer schon immer tabu
Nicht immer war das Wächterleben hoch oben in der kleinen Klause von St. Lamberti so unbeschwert wie heute. Der letzte Tumhüter wurde zu Zeiten der wenig zimperlichen Wiedertäufer trotz verzweifelter Gegenwehr von der Kirchturmspitze auf den Marktplatz befördert, wo er mit zerschmetterten Gliedern liegen blieb. Auch mussten sich manche leichtsinnige Wärter von Münsters Stadtvätern Rügen und Bestrafungen gefallen lassen. So heißt es in einem Protokoll vom 12. April 1627 „Ward den beiden Turmhüteren von Lamberti uferlegt, hinfüro des Nachts ihre Weiber vom Turm zu lassen, sich des Saufens zu enthalten und nüchtern ihre Wacht in acht zu nehmen, bei ernster Exemplarstraf“. Unter Paragraf drei einer Dienstinstruktion aus dem Jahre 1902 wird gar angedroht: “ Bei Strafe sofortiger Entlassung hat sich der Türmer jeder Verunreinigung des Turmes, namentlich des Ausgießens eines Nachtgeschirrs auf dem Umgang oder von diesem herab zu enthalten“.
Mit solchen rigiden Maßregelungen muss Türmernachfolger Schulze, als dienstältester Wächter in Europa nicht mehr rechnen. Eine Campingtoilette schuf Abhilfe. Andere Unwägbarkeiten machen ihm da mehr zu schaffen. So berichtet der frühere Studiosus, der auch schon mal als Gärtner und Buchbinder seinen Lebensunterhalt verdiente, von einer Gefahrenacht, der besonderen Art. Da brachte der heftiger Schneesturm Kyrill den Turm von St. Lamberti ins Wanken: “ Es wackelte, heulte und dröhnte hier oben so sehr, dass ich nicht mehr hören konnte, ob jemand die Stufen hoch kam. Ich fühlte mich wie ein Kapitän auf dem sinkenden Schiff ohne Chance auf Rettung“.
Wie Vieles im Türmerleben des Wolfram Schulze ging auch das gut aus. Höre er von Münsteranern, sie fühlten sich sicherer und könnten beruhigt zu Bett gehen, wenn er über die Stadt wache, mache ihn das stolz und zufrieden. Und auch da ist sich der „Berufseinsiedler“ sicher: „ Das tägliche Treppensteigen hält fit und solange meine Gesundheit mitmacht, will ich Türmer bleiben“.
Georg P. Rainer
Info: Das Bild vom Prinzipalmarkt, Münsters „gute Sube“ ist dem neuen Bildband „Münster ist jovel“ entnommen. Erschienen im Münstermitte Medienverlag. Hier beschreiben die Autorinnen Heidi von Saint-George und Jutta große die Dom- und Universitätsstadt aus sehr persönlicher Kamerasicht. Sie führen den Betrachter zu den schönen und unverwechselbaren Seiten dieser „Stadt voller Merkwürdigkeiten“. Die begleitenden Texte des Fotobuches (Preis: 14.80 €) sind in sechs Sprachen übersetzt. (www.muenstermitte-medienverlag.de)